Eine eigene Wohnung ist Voraussetzung für ein menschenwürdiges Leben.
Das sollte in unserer reichen Gesellschaft eine Selbstverständlichkeit sein.
Doch leider nimmt die Wohnungslosigkeit in Deutschland rapide zu. Das gilt auch für Kiel. Das Ausmaß ist für die Öffentlichkeit selten sichtbar und kommt nur in ihrer härtesten Form, der Obdachlosigkeit, zum Ausdruck.
Ein Leben ohne eigene Wohnung bedeutet für die betroffenen Menschen ein Leben in Armut ohne Privatsphäre, Entwürdigung und gesellschaftliche Diskriminierung.
Nach Angaben des Sozialberichts der Stadt Kiel von 2024 waren im Jahr 2023 im Durchschnitt 2.710 Personen wohnungslos. Das ist ein Anstieg gegenüber dem Vorjahr um 4,7 Prozent.
Rechnet man laut Sozialbericht noch die Geflüchteten aus der Ukraine oder Personen, „die aus anderen Gründen Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten“, hinzu, so haben 5.477 Menschen in Kiel keine eigene Wohnung.
Es ist davon auszugehen, dass sich die Zahlen von 2023 bis heute nicht verbessert haben.
Die Zahl setzt sich – abgesehen von Asylsuchenden – hauptsächlich aus alleinstehenden Menschen zusammen. Dabei haben Männer einen Anteil von 72 %, Frauen einen von 18%. Auf Familien entfallen 8 % (Paare mit Kindern, Alleinerziehende).
Die 8 % wohnungsloser Familien bringt die Stadt Kiel „primär“ in angemieteten Ersatzwohnungen unter.
Das gilt allerdings nicht für asylsuchende Familien. Bis sie selbstständig eine Wohnung gefunden haben, leben sie in Sammelunterkünften. Bei der Wohnungssuche stehen sie am Ende der Warteschlange. Viele von ihnen haben über Jahre keine Aussicht auf eine eigene Wohnung.
Alleinstehende Wohnungslose leben vorrangig in Sammel- und Notunterkünften, die keine Privatsphäre zulassen. Da selbst hier die Plätze nicht ausreichen, wurden 2023 387 Personen in Pensionen/Hotels oder anderen privaten Unterkünften untergebracht.
Darüber hinaus gibt es zahlreiche obdachlose Menschen, die überhaupt kein Dach über dem Kopf haben.
Die Statistik des Sozialberichts erfasst nur die Obdachlosen, die Kontakt zu einer Beratungsstelle haben und/oder Sozialleistungen erhalten. Erfahrungsgemäß suchen Menschen, die keinen Anspruch auf solche Leistungen haben oder darauf verzichten, keine Beratungsstelle auf. So muss man davon ausgehen, dass die Dunkelziffer bei der Obdachlosigkeit sehr hoch ist.
Die Stadt ging Ende 2023 von 33 obdachlosen Personen aus. Diese Zahl muss – aufgrund der Dunkelziffer – mindestens verdoppelt werden.
Als Hauptproblem bei Wohnungslosigkeit beschreiben Mitarbeiter*innen der Wohnungslosenhilfe vor allem fehlenden Wohnraum. Aufgrund der Probleme, die wohnungslose Menschen oft haben, ist eine erfolgreiche Wohnungssuche auf dem freien Wohnungsmarkt so gut wie ausgeschlossen. Das hat sich in den letzten Jahren durch den allgemeinen Mangel an bezahlbaren Wohnraum noch deutlich verschärft.
So bleibt nur noch der soziale oder kommunale Wohnungsbau. Auch hier gibt es einen eklatanten Mangel, denn weiterhin fallen mehr Wohnungen aus der Sozialbindung als welche durch Neubau hinzukommen.
Besonders problematisch ist die in den letzten Jahren deutlich angestiegene materielle und soziale Verelendung. Dazu kommen stark zunehmende Sucht- und psychische Erkrankungen, die häufig zu körperlichem Verfall, Verwahrlosung und Realitätsverlust führen.
Doch daneben gibt es einen sehr hohen Anteil wohnungsloser Menschen, die allein durch Mietschulden und Zwangsräumungen ihre Wohnung verloren haben.
Das Housing-First Konzept
Nach dem Housing-First Ansatz wird Menschen ohne eigene Wohnung zuerst eine Wohnung zur Verfügung gestellt. Dabei wird davon ausgegangen, dass eine eigene Wohnung nicht nur eine Voraussetzung für ein menschenwürdiges Leben ist, sondern dass sie für die Betroffenen auch eine wichtige Grundlage bildet, um mit Krisen umzugehen.
Es muss dabei nicht – wie bisher – die „Wohnungsfähigkeit“ unter Beweis gestellt werden, die oft mit der Erfüllung von Auflagen und Wohlverhalten gekoppelt ist. Das Recht auf eine Wohnung muss also nach diesem Ansatz nicht „verdient“ werden, sondern wird als existenziell angesehen. Daher besteht von Anfang an ein unbefristetes Mietverhältnis.
Zur Problembewältigung werden Unterstützungen wie Sucht- und Schuldnerberatung sowie weitere sozialpädagogische Hilfen angeboten. Es ist aber nicht verpflichtend, sie anzunehmen. Studien aus Finnland zeigen, dass solche Hilfen dennoch von einer großen Mehrheit freiwillig in Anspruch genommen werden.
Räumlich ist eine Konzentration von Housing-First Wohnungen zu vermeiden, um Stigmatisierungen zu begegnen. Man soll nicht aus der Adresse schließen können, dass hier jemand wohnt, der vorher wohnungslos war.
Das Housing-First Konzept wird bereits in mehreren Ländern und Kommunen erprobt. Verschiedene Studien belegen, dass Menschen, die nach diesem Konzept eine Wohnung bekommen haben, mittel- und langfristig die Wohnung behalten. Nach einem Bericht des Housing-First Europe Projekt befanden sich in Amsterdam 97 % der ehemals Wohnungslosen nach 12 Monaten immer noch in ihrer Wohnung. In Kopenhagen waren es 94%. In Wien behielten 98% auch noch nach zwei Jahren ihre Wohnung. Dabei nahmen fast alle Mieter*innen Hilfsangebote an (Neuhaus Housing First Pilot-Project).
In Finnland wurde 2008 Housing-First als zentrale Strategie zur Beseitigung der Wohnungslosigkeit landesweit implementiert. In den zehn größten Städten des Landes waren damals 2.931 Menschen langfristig wohnungslos.
Diese Zahl reduzierte sich in 5 Jahren um 25 % auf 2013 (Pleace,N., Culhane, D.P. u.a.: The Finish Homeless Strategy). Inzwischen bekamen durch Housing-First 60% der Wohnungslosen eine eigene Wohnung .
Das war nur durch umfangreiche Investitionen des Staates in den Bau, Erhalt und Ankauf von Tausenden Sozialwohnungen möglich. In Helsinki reduzierte sich dadurch die Zahl der Wohnungslosen um mehr als 40 Prozent. Dabei ist es interessant, dass diese Investitionen sowohl von sozialdemokratischen als auch von konservativen Regierungen vorgenommen wurden. Housing-First scheint mindestens in Finnland ein politisch weitgehend unumstrittenes Konzept zur humanen und effektiven Beseitigung von Wohnungslosigkeit zu sein.
Obwohl die Investitionskosten solcher Programme hoch sind, gehen finnische Fallstudien davon aus, dass sich die Gesamtkosten für Unterbringung und Hilfen für wohnungslose Menschen um 15.000 € pro Jahr und pro Person reduzieren.
Insgesamt belegen die Zahlen also, dass es durch Housing-First gelingt, Menschen erfolgreich den Weg aus der Wohnungs- und Obdachlosigkeit zu bahnen. Trotz hoher Investitionskosten fallen nach diesem Ansatz die Gesamtkosten für die Hilfe bei Wohnungs- und Obdachlosigkeit niedriger aus.
Auch in Kiel haben die GRÜNEN und die SPD Housing-First in ihre Kooperationsvereinbarung aufgenommen. Dort heißt es: „Sofern es sinnvoll ist, werden wir das Housing-First Prinzip als Leitziel der Wohnungslosenhilfe in Kiel setzen. Wir wollen wohnungslosen Menschen direkt und niederschwellig Wohnraum im Rahmen unbefristeter Mietverhältnisse vermitteln.“
Obwohl diese Formulierung wachsweich und unverbindlich ist, wird Housing-First zumindest als sinnvoll angesehen und als „Leitziel“ anerkannt.
Bisher gibt es in Kiel …. Wohnungen, in denen Wohnungslose nach diesem Konzept untergebracht wurden. Davon besitzt die Hempel-Stiftung mit Förderung aus Landesmitteln 12 Wohnungen, weitere 9 werden zurzeit gebaut. (Stadt Kiel ? ).
Diese … Wohnungen sind vor dem Hintergrund von 5.477 wohnungslosen Menschen nicht einmal ein Tropfen auf den heißen Stein.
Das Hauptproblem für das Housing-First Konzept sind der große Mangel an Sozialwohnungen und die explodierten Kosten im Wohnungsbau. Das gilt natürlich auch für Kiel.
Ohne ausreichende staatliche Fördermittel ist der Bau solcher Wohnungen nicht möglich.
Doch die stehen völlig unzureichend bis gar nicht zur Verfügung. Die Landesmittel für den geförderten Wohnraum wurden in Schleswig Holstein zeitweise völlig ausgesetzt. Das liegt auch an der Schuldenbremse für die Landeshaushalte und der politischen Prioritätensetzung.
Wohnungslose Menschen haben keine Lobby und sind für die Parteien als Wähler*innen unbedeutend. Sozialverbände sind bei dem Thema oft zurückhaltend, weil sie auf der Landes- und kommunalen Ebene als Einrichtungsträger von der Entscheidung der Politik stark abhängig sind.
Für ausreichend geförderten Wohnraum – und nur der ist bei Neubauten für die Mehrheit bezahlbar – sind auf allen Ebenen politischer Wille und ausreichende Finanzmittel notwendig. Davon kann man leider weder auf der Bundes-, noch auf der Landesebene und ebenso wenig auf kommunaler Ebene ausgehen.
Um auch nur ansatzweise dem Mangel an bezahlbaren Wohnraum zu begegnen, wäre ein bundesweites Sondervermögen von 50 Milliarden Euro notwendig und in besonders betroffenen Kommunen wie Kiel eine Quote von 50 Prozent Sozialwohnungen bei allen Neubauprojekten.
Davon wären 10 Prozent für Menschen ohne Wohnung dringend nötig.
Andreas Meyer